Es gibt keine Erziehung, es gibt überhaupt nur Selbsterziehung. - Johann Gottlieb Fichte
Auf der Suche...
... nach einem einleuchtenden und praktikablen Inhalt für diese znächst provokativ klingende Aussage stieß ich auf die ästhetischen Briefe Friedrich Schillers. Er entwickelt mit Hilfe der drei Grundbegriffe Formtrieb, Spieltrieb und Stofftrieb ein polar strukturiertes, dreigegliedertes Bild vom Menschen. Formtrieb und Stofftrieb widersprechen sich zwar in ihren Tendenzen, aber nicht in denselben Objekten; und was nicht aufeinader trifft, kann nicht gegeneinander stoßen1. Es handelt sich also nicht um platte Gegensätze, sondern um Kraftbereiche, die sich gleichsam windschief zueinander verhalten. Ist dies gewährleistet, dann entsteht ein mittleres Gebiet, in dem der Spieltrieb erwacht, der den Menschen überhaupt erst zum Menschen werden läßt:
Denn, um es endlich... herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. 2
Ein Mensch, der diesen Einklang zwischen den beiden Polen herstellt, kann in jedem Augenblick auf die Güte seiner Handlungen wie auf etwas Selbstverständliches schauen.3 So betrachtet, wird Selbsterziehung als Erziehungsmethode denkbar und praktikabel. Ein weites Feld von Betätigungsmöglichkeiten in dem geschilderten Sinne eröffnet sich. Es geht also nicht mehr darum, eine vorher ausgedachte Form dem heranwachsenden Kinde pädagogische überzustülpen, sondern wir haben uns zu bemühen um diesen mittleren Zustand. Davon kann dann eine Anregung ausgehen auf die zu erziehenden Kinder, damit sie ihren eigenen Weg zu diesem sensiblen Gleichgewicht finden können.

Als Angehöriger der '68-er Generation' beschäftigte mich besonders immer wieder die Frage, um was es sich eigentlich beim Formtrieb handelt. Uns war ja von Freud, Reich, Mitscherlich und Marcuse nahegelegt worden, den Stofftrieb mit dem Sexualtrieb gleichzusetzen und den Formtrieb mit einer psychischen "Über-Ich-Instanz", die von der Gesellschaft aus im Menschen herangebildet würde. Schiller meinte aber mit dem Stofftrieb das "empfindende Vermögen" des Menschen, und im Bereich des Formtriebes suchte er das "Nachbild des Unendlichen". Dagegen meint Wilhelm Reich, ein frei sich entwickelnder Sexualtrieb sei die Grundlage für eine Persönlichkeitsentwicklung. Im Grunde genommen wirke dabei jenes Über-Ich nur störend und hemmend.4 Zwar ist bei Freud auch von der Vermittlungsaufgabe eines Ichs zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip die Rede, aber die meisten von uns empfanden doch dieses Über-Ich feindlich. Wir konnten keine wirklich positive Aufgabe für diese Instanz mehr erkennen. So ging uns die Mitte verloren: jener Bereich zwischen dem Naturzwang und der logischen Vernunftnotwendigkeit, den Schiller als einen ästhetischen Zustand beschreibt. Dieses 'Nichtmehrstehenkönnen' in auszuggleichenden Polaritäten führte in die Sackgasse der antiautoritären Bewegung, die auch als Anti-Formtrieb-Bewegung charakterisiert werden kann. Ein lang anhaltendes Mißtrauen gegen die Daseinsberechtigung jeglicher Form in der Gesellschaft und im seelischen Leben resultierte bei mir daraus.
In meiner lang anhaltenden praktischen Erziehertätigkeit mußte ich mir also die Frage stellen, wie ein reales Verhältnis zu dem, was Schiller Formtrieb nennt, errungen werden kann.
Als besonders gute Hilfe hat sich der Schriftsteller Ernst Jünger erwiesen. In seiner 1938 erschienenen Schrift Das abenteuerliche Herz5 stellt er Reflexionen über Farben an. In einem Passus über die blaue Farbe wird diese dem gesetzgebenden Geist zugeordnet. Blau ist die Farbe der Distanz und der Lebensferne. Darin ist sie dem Rot entgegengesetzt, das als Farbe des elementaren Urstoffes Distanzlosigkeit ausdrückt. Rot ist die Farbe der reinen Gegenwart. In ihr erscheint die ungestaltete reine Lebenskraft. Das Zusammenspiel von Rot und Blau steht ein für das spannungsvolle Gefüge zwischen einem gestalteten und begreifbar machenden Geist einerseits und der ungesonderten elementaren Lebenskraft andererseits: Gefahr und Schönheit in Symbiose.

Es ist eben diese Mischung, die Friedrich Nietzsche als die tragische conditio humana erkannte und deren Gestalt er als das Dionysische und das Apollinische bezeichnete. Wichtig ist, daß diese Pole untrennbar miteinander verbunden sind und in ihrem strittigen Miteinander erst den Spielraum der Existenz eröffnen.... So führt Jünger gleich zum Auftakt seines Buches vor, was sich später als wesentliches Element seines Vorgehens erweist: den Wechsel der Mittel. Der Passus über die fliegenden Fische schließt mit den Worten: Dieser Wechsel der Mittel hatte etwas ungemein Erleichterndes. Christoph Quarch sagt dazu: Die Heiterkeit, von der hier die Rede ist, durchzieht das ganze Abenteuerliche Herz. Sie macht die eigentliche Grundspannung des Buches aus. Es ist die Heiterkeit, die sich dann einstellt, wenn etwas schlagartig in einem anderen Licht erscheint oder sich von einer anderen Seite zeigt. Das Vergnügen, das der Wechsel der Mittel uns bereitet, ist der Freude verwandt, die sich bei der Lösung eines Vexierbildes einstellt...6 Wer den Mut zu dem Wechsel nicht aufbringt, muß der größten Gefahr erliegen, die es gibt: daß das Leben etwas Gewöhnliches wird.7
Diese Ideevon einem Wechsel der Mittel hat sich für meine erzieherische Tätigkeit als sehr fruchtbar und weiterführend erwiesen, so z.B. in meiner Tätigkeit als Gartenbau - und Religionslehrer an der Kaspar-Hauser-Schule. Mehr dazu ein andermal.
1 - Friedrich Schiller, Über die ähstetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen, S. 47-48, Stuttgart 1961
2 - Friedrich Schiller, Über die ähstetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen, S. 128, Stuttgart 1961
3 - Friedrich Schiller, Über die ähstetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen, S. 128, Stuttgart 1961
4 - Dieter Zimmer, Tiefenschwindel - Die endlose und die beendbare Psychoanalyse, 7. Kap., Die uneinigen Drei: Über die Instanzen Es, Ich, Über-ich, S. 149-151, Hamburg 1990
5 - Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz, Gesamtausgabe Bd. 9, S. 232, Stuttgart 1978, siehe auch S. 315
6 - Christoph Quarch, Die Natur als inneres Erlebnis, in: Magie der Heiterkeit, Ernst Jünger zum Hundersten, S. 184-185, Stg. 1995
7 - ebd. S. 186-187