Kindliche Sehnsucht
Bis zu meinem 6.Lebensjahr hatte ich das Wort "Religion" noch nie gehört. Das änderte sich dramatisch nach dem ersten Schultag. Nach 5 Stunden Unterricht war ich nach Hause gelaufen und eine Stunde später klingelte es und eine Schulkameradin (Lieselotte) stand vor der Haustür und fragte leicht vorwurfsvoll, wo ich denn gewesen sei. Ich hätte die letzte Stunde verpasst!
Auf meine Frage, was ich denn verpasst hätte, lautete ihre lapidare Antwort: RELIGION .
Da fing dann eine neue Zeitrechnung für mich an. Bald war ich davon überzeugt, dass die Gestalten des Alten Testamentes- Moses, Abraham, Jakob, Isaak- oben auf den Wolken weilten und ich durchaus mit ihnen, zu ihnen, sprechen konnte und durfte. Und das war ein sehr erhebendes und beseligendes Gefühl.

So wurde die ganze Welt, die natürliche und die von meiner Religionslehrerin erzählte, eine gut verbundene Einheit. Sie, Fräulein Kuhl, war in den letzten Kriegsjahren über die zugefrorene Ostsee in den Westen geflüchtet. Eine kleine, sehr standhafte Person, die wir bald sehr liebten. Wenn wir sie im Dorf sahen, stürzten wir auf sie zu und wollten ihr nahe sein. So musste sie uns in den ersten Stunden des Unterrichtes erstmal das rechte Grüssen beibringen.
Sie konnte so dramatisch erzählen, dass aus Vergangenheit Gegenwart wurde. Dass man bei der Flucht aus Sodom und Gomorrha sich nicht umschauen durfte, andernfalls man zu Salzsäule erstarren würde, erlebte ich dergestalt, dass dieses Gebot auch für die Schulstunde galt, in der sie diese Geschichte erzählte. Ich spüre noch heute die angespannten Nackenmuskeln, auf die ich mich konzentrierte, um mich ja nicht umzuschauen! Ich weiss nicht, ob es den anderen auch so ging. Für mich wurde das alles lebendig: Moses Zorn über das Volk Israel, das in seiner Abwesenheit ein goldenes Kalb angebetet hatte. Joseph, verraten von seinen Brüdern und sein erstaunliches Talent zur Vergebung. Die böse Schlange im Paradies. Ich war glücklich und geborgen in diesen grossen Erzählungen. Ganz folgerichtig führte sie uns auch zum Gottesdienst (evangelisch!) am Sonntag in der Kirche der benachbarten Stadt.
Ich spürte, dass meine Eltern diesen Erlebnissen irgendwie ferne standen. Und so hielt ich meine Besuche am Sonntag zum Gottesdienst geheim. Meine Eltern wähnten mich im Wald und waren es zufrieden. Diese wunderbare Zeit ging zu Ende, als wir fortzogen.
Märchen, Leere, Psychologie
Ich fing dann an, in Märchenbüchern mein inneres zuhause zu finden. Bis diese Zeit ganz plötzlich auch zu Ende war. Von einem Tag auf den anderen verschloss sich diese Welt. Bald darauf wurde ich sehr krank (12.Lebensjahr) und ob ich wollte oder nicht, ich wurde in ein Leben reingezerrt, das ich mir so nie hätte vorstellen können: Eine Welt ohne Schutzgeister über den Wolken, ohne Aladin mit der Wunderlampe, ohne Verbindung mit einem liebenden Gott im Himmel.
Die Sehnsucht nach einem wahren Gottesdienst aber blieb als Seelenfundament erhalten. Zwar überzeugte mich die Lektüre der Freudschen Psychoanalyse (mit 15!), dass es sich bei der Religionsausübung um eine Art Zwangsneurose handele und dass der einzige Ausweg aus dieser düsteren Kammer ein erfolgreiches Sexualleben nur sein könne (Wilhelm Reich !). Aber das Leben belehrte mich ziemlich rasch, dass ich da einer typischen Halbwahrheit aufgesessen war. Da fehlte doch was, etwas ganz entscheidendes!

Beten
Und so verschlug mich mein Schicksal zu einer religiösen Gebetsgemeinschaft in den Bergen des Berner Oberlandes am Thuner See, wo ich die Möglichkeit bekam (mit 21) noch einmal von vorne anzufangen. Der Anfang war und ist verbunden mit der Frage, ob die Seele zu einer unmittelbaren Verbindung mit dem göttlichen Urwesen, dem wir doch alle entstammen, fähig gemacht werden kann. Ohne Selbsttäuschung, evidenzbasiert.

So begegnete ich verschiedenen Personen in mir, die sich inzwischen in mir angesiedelt hatten; die eine sehr wissenschaftlich orientiert, eine andere verzweifelt kindlich an bestimmten Glaubenssätzen festhaltend, wiederum andere fasziniert von glitzernden Klüften des Abgrundes ohne göttlichen Vatergrund, ohne Engel, ohne Himmelsmusik.
Aber die Gemeinschaft der Menschen, die mich im "Lichtzentrum Bethanien" umgab, rührte das nicht weiter. Sie gab sich ganz hin einer Tätigkeit, aus der ich mich gänzlich vertrieben fühlte: Das Beten.
"Herr, lehre uns beten" hiess eines der Büchlein, die da herumlagen. Ich ahnte, wenn ich wirklich einen Weg finden würde, wieder aufrichtig zu beten, dann wäre Rettung auch für meine gestürzte Seele denkbar.
Doch erwies sich dieses Unterfangen als viel viel schwieriger, als ich gehofft hatte. Das starke Erlebnis einer Nichtverbindung zur göttlich-geistigen Welt liess sich nicht einfach auflösen und verharrte merkwürdig fest verankert in meinem Inneren. Zwar traute ich mich schon, Jesus Christus in meiner Not anzurufen, aber den Vatergott, den er doch so sehr verherrlichte, blieb mir unerreichbar. Das sollte sehr lange Zeit so bleiben.