Also noch einmal: Ich glaube, ich war 19, als ich zum ersten Mal das Wort "Menschwerdung" zu Ohren bekam! Wie bitte? Ein Mensch WERDEN? Ja, sind wir denn nicht so, wie wir sind, schon Menschen? Anscheinend gibt es da Zweifel!
Es war wohl auch die Zeit, in der ich zum ersten Mal das Wort "Seelenverlust" hörte. Das schien mir ähnlich verrückt. Wie soll denn so etwas festgefügtes wie meine Seele (die ich mit meiner Persönlichkeit gleich setzte) verloren gehen können?

Gut, es gibt Psychatrien. Da kommen wohl Leute hin, deren Seelen möglicherweise erkrankt sind, aber SeelenVERLUST? Mir schien das wie ein absonderliches Gerede.
Manches erlebte ich dann und einiges trug sich zu. Als ich zwischendurch mal wieder in meinem Elternhaus war, fragte mich meine Mutter, nachdem sie mich lange angeschaut hatte, ob ich meine Seele verloren hätte. Ich war sehr erschrocken, wehrte ab, aber ich wusste, dass sie etwas wahrgenommen hatte, was sich schlecht verheimlichen liess.
So lernte ich weitere Fragen zu stellen: Kann ein wirklicher Gottesdienst Menschen helfen, ihrer Seele nicht verlustig zu werden und kann es Hilfen geben, wenn sie verloren gegangen ist, vielleicht auch nur teilweise. Da fiel mir auf, dass Priester ja auch Seelsorger genannt werden.
Die Frage nach einer therapeutischen Aufgabe des Kultus, war das angemessen und berechtigt?
Inzwischen war ich Religionslehrer an einer Schule für Erziehunghilfe geworden (1986-2001).
Es wurde meine Aufgabe, Kinder und Jugendliche in etwas einzuführen, was sie in der Regel von Zuhause her nicht kannten und auch keine grossen Sympathien danach spürten. Auf jeden Fall musste ich neue Wege suchen, Wege , die ich zunächst für mich selber erkundete, Wege aber auch, die gangbar wären für junge Menschen, die aus der Bahn geraten waren.

In der Waldorfpädagogik lernte ich sogenannte "Schulhandlungen" kennen, kleine überschaubare kultische Handlungen für Kinder, Jugendliche und sogar Erwachsene, die nach so was Sehnsucht verspürten jenseits der kirchengebundenen Angebote.
Ich fing an, mich mit der Geschichte des christlichen Gottesdienstes zu beschäftigen. Da gab es einige Jahrhunderte lang ein Urchristentum mit anspruchslosen Ritualen, die anscheinend nicht einmal schriftlich festgelegt waren. Das sollte sich dramatisch ändern im 4. Jahrhundert, als das Christentum in der Regierungszeit von Kaiser Konstantin (306-337) langsam zur Staatsreligion avancierte und sich dadurch vollständig veränderte.
Die schlichten Zusammenkünfte der ersten Christen wurden nun zu Staatszeromonien, kaiserlicher Prunkritualbimbam überwucherte das ursprüngliche Gefüge. Ab dem 10. Jahrhundert war bei fast allen germanischen Völkern, die zum Christentum übergetreten waren Latein die Ritualsprache, dem Volke nicht mehr verständlich, nur noch den Priestern. Katholische Ritualforscher sprechen sogar von einer tausendjährigen Fastenzeit, die die christlich gewordenen Völker erleiden mussten, weil die Essenz der kultische Riten hinter einer Dornenhecke in die Verborgenheit geriet.

Ich hatte Gelegenheit, solche Gottesdienste, in Latein gesprochen, mitzuerleben. Ein schamanistisches Zauberritual von Bantuvölkern hätte mir nicht ferner vorkommen können. Da regte sich im Seeleninnern gar nichts mehr als Überdruss und Langeweile. Auch die "Heiligen" Worte und Begriffe waren leer geworden. Gottessohn..Menschensohn... Heilige Dreifaltigkeit... Da standen mir "Urknall" und "Urschrei" doch noch näher. Es war ein grosses Glück, dass ich bald darauf Eugen Drewermann und sein Werk kennenlernte.
Fortsetzung folgt.